Die Mauern des Denkens

 

Dr. Björn Vedder

 

Text für den Katalog: Spur der Steine, 2019

 

„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.“ Diesen Satz sagte der DDR- Staats- und -Parteichef Walter Ulbricht bei einer Pressekonferenz am 15. Juli 1961. Dafür ist er vielfach als Lügner bezeichnet worden, denn, wie wir alle wissen, ist die Mauer dann knapp zwei Monate später doch gebaut worden und trennte 28 Jahre lang Ost- und West-Deutschland.

 

„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten!“ So heißt auch eine Arbeit, die Annette Voigt 2017 im Kunstmuseum Erlangen realisierte und für eine ganze Reihe ähnlicher Arbeiten exemplarisch ist.

 

Dabei handelt es sich um eine mehrfach geteilte Wand, die einen Raum trennt. Sie verläuft zwischen einer Seitenwand und einer Säule, die die Decke stützt, und zwischen dieser Säule und der nächsten, wobei die Mauer in diesem Teil unterbrochen ist. Über die zweite Säule geht die Mauer nicht hinaus. Wir können an ihr vorbeigehen. An der Lücke, die in der Mauer zwischen den ersten beiden Säulen klafft, lässt sich die Mauer besonders gut erkennen. Sie ist aus Papier- Steinen zusammengesetzt, die Voigt gefaltet hat. Im Aufbruch der Wand wird ihre Struktur sichtbar und damit verändert sie sich. Wir sehen nun nicht mehr nur eine Wand, sondern können auch eine Spur der Steine verfolgen, die Voigt durch den Raum gezogen hat. Indem wir diese Spur verfolgen, sehen wir, wie Stein auf Stein gesetzt worden ist, lösen wir die Wand auf und es erscheint uns plötzlich gar kein Widerspruch mehr zu sein, dass diese Steine aus Papier sind und nicht aus Stein. Im Gegenteil. Wie sollte es denn anders sein, jetzt wo wir die Wand in einem Blick auf- und abbauen können, als dass ihre Steine leicht sind und nicht schwer, fragil und nicht hart, dass sie lose liegen und nicht fest gemauert sind. Inwiefern die Einsicht darin, wie die Dinge konstruiert sind, auch bedeutet, sie zu dekonstruieren und die Dekonstruktion nach einem berühmten Wort des französischen Philosophen Jacques Derrida darin besteht, offenzulegen, wie etwas konstruiert ist, lässt sich in Voigts Arbeit wunderbar beobachten.

 

Und sie führt auch vor, dass mit dieser Offenlegung zugleich der Sinn oder Unsinn von dem, was hier konstruiert und dekonstruiert wird, hinterfragt wird. Es taucht also die Frage auf, was eine Mauer eigentlich ist? Welche Funktion hat sie? Und was hat sie mit mir oder meiner Erfahrung zu tun? Diese Fragen mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen, aber – und das haben die Steine aus Papier ja schon angekündigt – sie sind es nicht. Eine solche Befragung des Selbstverständlichen ist ein zentrales Merkmal von Voigts Arbeiten überhaupt.

 

Die Mauer im Kunstmuseum Erlangen ist ortspezifisch – und auch das ist ein Merkmal von Voigts Arbeiten. Es ist nicht irgendeine Mauer irgendwo, sondern eine, die ganz konkret für diesen Raum gemacht worden ist. Sie ist eine Wand. D. h. sie schließt, zusammen mit anderen Mauern, die auch Wände sind, einen Raum ab. Mit dieser Begrenzung eröffnet sie einen Raum und verschließt eine anderen. Sie tut das aber nicht im physischen Raum des Museums, sondern im virtuellen Raum unserer Vorstellung. Denn tatsächlich sind die beiden Räume ja gar nicht vollständig geteilt. Da die Wand einen Durchbruch hat, können wir vom einen in den anderen hindurchsehen, und da die Wand nicht durchläuft, können wir um sie herum und in den anderen Raum hinüber gehen und von diesem dann durch den Durchbruch in den ersten blicken. Wir bemerken dann, dass es im zweiten Raum genauso ist, wie im ersten. Auch hier wird ein Raum eröffnet, in dem ein anderer verschlossen wird und beide getrennt werden. Wir bemerken das aber nur, weil Voigt diese Trennung im physischen Raum nicht vollständig durchführt, sondern einen Spalt und eine Lücke lässt. Auch das ist ein dekonstruktives Verfahren, weil es zeigt, wie Trennungen und Unterscheidungen konstruiert werden.

 

Wir bemerken, dass die Räume nicht nur in der physischen Realität des Museums bestehen, sondern auch in der virtuellen Realität unserer Vorstellung und wir bemerken, dass diese Räume in gewisser Weise auf einander bezogen, aber auch unabhängig voneinander sind. Denn während die physischen halb offen sind, können die virtuellen geschlossen sein. Wir haben aber die Erfahrung vom geschlossenen virtuellen Raum nur deshalb, weil die physischen Räume halb offen sind. Andernfalls würden wir nur die Begrenzung des einen Raumes erfahren, nicht aber das, was jenseits von ihm liegt. Wir würden nur das Ergebnis einer Unterscheidung sehen, nicht aber das Unterscheiden selbst und wohlmöglich nicht einmal merken, dass hier ein Raum abgetrennt worden ist, wenn die Mauer nicht halb offen und fragil und anders wäre als die meisten anderen Mauern.

 

Was Voigt also mit der Mauer vorführt, ist, was eine Mauer ist und was eine Wand ist, welche Art von Räumen es gibt und wie diese voneinander unterschieden und auf einander bezogen sind, wie Konstruktion und Dekonstruktion zusammenhängen und was eine Unterscheidung ist.

 

Damit führt sie uns zugleich zwei ganz grundsätzliche Dinge vor, die mit der Kunst, unserer Erfahrung von Kunst und damit zu tun haben, warum die Erfahrung von Kunst uns etwas über unsere Erfahrung überhaupt erkennen lassen kann.

 

Voigts Öffnung und Schließung der Räume führt das Grundprinzip der Form vor. Denn Formen, seien es künstlerische oder andere, sind das Ergebnis einer Unterscheidung. „Eine Form“, so schreibt der Soziologe Niklas Luhmann, „hat zwei Seiten, soviel scheint festzustehen. Sie wird eingesetzt durch die Fixierung einer Grenze, die bewirkt, dass zwei Seiten getrennt werden mit der Folge, dass man die eine Seite nur durch eine weitere Operation erreichen kann, die die Grenze kreuzt. Formsetzung ist also Unterscheiden, und Unterscheiden ist eine Operation. Und das setzt, wie alles Operieren, Zeit voraus.“[i]

 

Jede Form, führt Voigt in der Unterscheidung der Räume vor, hat „eine Innen-Seite und eine Außen-Seite“. Eine Form ist also die Einheit dieser Differenz und der gestalthafte Ausdruck der „Welt als Differenz“. Sie zu setzen, heißt, eine Differenz in die Welt zu setzen und dabei die Welt zu verletzen.

 

Wir bemerken das in der alltäglichen Erfahrung jedoch nur selten, weil dort die Formen oft zu vielfältig und zu komplex sind. Und wir erfahren sie oft nur zur Hälfte, d.h. wir erfahren meist nur das Innen oder das Außen, wir sind auf der Innenseite oder der Außenseite, kaum je aber auf beiden Seiten zugleich. So erfahren wir nur das Ergebnis der Unterscheidung, nicht aber das Unterscheiden selbst, nur die Wirkung der Formen, nicht aber die Form selbst, die ja Einheit dieser Differenz ist.

 

Was wir in der alltäglichen Erfahrung nicht bemerken können – oder auch nicht bemerken wollen, weil es uns dort z.B. eher um das Benutzen als um das Verstehen von Formen geht – bringt Voigt in ihrer konzentrierten und reduzierten Arbeit zur Erfahrung.

 

Wenn wir jedoch erst einmal darauf aufmerksam gemacht worden sind, fällt es schwer, diese Reflektion nicht auch auf andere Formen zu übertragen und uns zu fragen, was hinter den Mauern in unseren Köpfen liegt. Gibt es hier nicht auch eine ganze Reihe von Räumen, die (wir?) von anderen unter- und abgeschieden haben? Ist uns immer klar, was auf der anderen Seite liegt? Gehen wir auf die andere Seite der Wand? Denken wir die Einheit der Unterscheidungen?

 

Auch das ist im Alltag wohl kaum der Fall und selten praktikabel. Denn wir benötigen Setzungen, um die Interpretation unserer Erfahrung und unser Handeln zu organisieren. Dächten wir das Unterschiedene immer mit und reflektierten auf die Einheit von beidem, kämen wir zu keinem Ende. Wir könnten dann keinen Apfel als solchen erkennen ohne nicht auch über Birnen, Obst, Gemüse, Pflanzen, Tiere und alles Lebendige nachzudenken. Oder wir müssten, wollten wir uns der Rationalität unseres Handelns versichern, konstatieren, dass jeder Grund, den wir uns für unser Handeln denken, eine Setzung ist, die anderes ausschließt und abtrennt, zwischen denen zu unterscheiden, wieder neue Gründe verlangt, usw. ad infinitum, so dass jeder Grund einen Ab-Grund der Gründe verdeckt.

 

Es gibt aber doch eine ganze Reihe von Begriffen, und Begriffe sind ja Formen des Denkens, bei denen diese Dekonstruktion sinnvoll ist. Einer ist z. B. der des anderen oder des Fremden.

 

Wir sind i.d.R. überzeugt, zwischen uns und dem anderen genau unterscheiden zu können. Es ist wie mit den Räumen, hier bin ich, hier sind wir, dort ist der oder die andere(n), der eine Raum hier, der andere Raum dort. Wie bei den Räumen bin indes auch ich nur ich in der Unterscheidung von und Beziehung auf den anderen. Das wird schon dann deutlich, wenn ein Kind lernt, ich zu sagen. Es lernt die Dinge in der Welt kennen und die Namen dieser Dinge. Zu diesen Dingen gehört es auch selbst und sein Name ist der Name, den die anderen für es verwenden. Es lernt, „wenn Mama und Papa Björn sagen, dann meinen die mich“. Wir lernen zuerst, die Perspektive einer anderen Person auf uns einzunehmen und dann, uns auf uns selbst zu beziehen. Und dieser Bezug auf uns als ich ist überhaupt nur nötig, weil es mindestens einen andere gibt, für den wir und der für uns ein du ist. Wir beginnen dort, wo wir nicht sind, beim anderen, beim Fremden.[ii]

 

Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die Arbeiten von Annette Voigt die Formen, mit denen wir unsere Erfahrungen und unser Denken organisieren, hinterfragen. Diese Hinterfragung ist jedoch keine Kleinigkeit, denn diese Formen bestimmen, was wir überhaupt erfahren und denken können.

 

 

 

 



[i] Niklas Luhmann, „Die Paradoxie der Form“, in: Dirk Baecker, Kalkül der Form, Frankfurt/Main 1993, S. 197-212, hier: S. 199.

[ii] Ansgar Beckermann, „Selbstbewusstsein in kognitiven Systemen“, in: Ders., Aufsätze, Bd. 1, Philosophie des Geistes, Bielefeld 2012, S. 256-273. Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomeno­logie des Fremden,
Frankfurt/Main 2006.